“Mein geliebtes Kind” | Gedanken Lieblinge an die Kindheit meines Kindes!

Sie war alt geworden in den letzten Jahren. Alt, verletzlich und gebrochen, das hatte das Leben mit ihr angestellt. Es war nicht spurlos an ihr vorüber gezogen.

So saß sie nun auf ihrem Pflegebett und wartete. Wartete auf etwas, dass sie bereits wieder vergessen hatte. Sie wusste nicht mehr worauf sie eigentlich, an diesem wundervollen Frühlingsmorgen wartete, aber irgendein Gefühl sagte ihr, dass es gut wäre, wenn sie heute an diesem Morgen warten würden. Sie war alt geworden in der letzten Zeit, zunehmend vergesslich. Sie wusste nicht mehr wo sie war. Sie sah ihre Sachen, erinnerte sich aber nicht mehr daran, wie sie hier hingekommen waren. Nichts von all dem an diesem Ort erinnerte sie an etwas. Gerüche, Düfte, alles schien fremd in diesem tristen Zimmer, dass voll mit ihren Sachen zu sein schien. Wer war sie? Wo war ihr Leben hin gezogen?

Wo war er?

Seid ihr Mann vor einiger Zeit das Leben hinter sich ließ, war sie nicht mehr wiederzuerkennen. Er hatte sie hier auf dieser Welt zurück gelassen. Nach einem gemeinsamen Leben mit vier Kindern, einem gemeinsamen Bett, dass sie sich über 50 Jahre teilten war er einfach von ihr gegangen. Der Mann, der sie am Leben hielt, der mit seiner Stimme, seinen Augen, das Leben in ihr weckte. Er führte sie und sie hielt ihn. Doch dann ging er und hinterließ sie.

Seitdem waren ihre Erinnerungen an einen seidenen Faden gebunden. Vier Söhne, ein Leben, viele Erinnerungen, doch auf einmal war alles weg so als hätte es nie existiert.
Schon früh fing sie an alles zu vergessen, doch wenn sie ihren Patty sah wusste sie, dass alles wieder gut werden würden, egal ob sie es wissen würde oder nicht, denn er war ja da.

Irgendwann kehrten die Erinnerungen langsam aber stetig zurück, nie ging sie ins Bett ohne zu wissen wessen Hand sie neben sich fest umschlossen hielt. Immer wusste sie wer er war, dieser Mann, der sie irgendwo auf ihrem Weg gepackt hatte und nie wieder losließ.

In den Augen ihres jüngsten Sohnes Samuel würde er ewig Leben, denn sie hatten seinen Glanz, seine Freude und seinen Charme mit dem er sie damals für sich gewinnen konnte. Er hatte immer um sie kämpfen müssen und sie für ihre Familie, für ihren Kinderwunsch. Doch zu irgendeinem Zeitpunkt, an einem Tag an dem alle aus dem Haus waren nach einem gemeinsam Familientag im Garten, die Kinder spielten, die Alten aßen, da sagte er es ihr:

Du bist das Beste aus meinem Leben, denn du hast mir alles Menschenmögliche geschenkt, alles was mein Leben lebenswert macht.

Ihre Söhne hatten inzwischen eigene Familien. Sie hatten ihr Leben wieder für sich und liebten sich, wie nie zuvor. Alle Anspannungen, alle Sorgen waren verflogen. Sie genossen das Alter und erfreuten sich an dem Leben ihrer Kinder. Sie hatten alles richtig gemacht, das zu wissen war ein schönes Gefühl.

Nun war er weg. Sie noch da. Ihr Körper wartete treu und ergeben auf alles, was noch kommen sollte, als sich plötzlich die Zimmertür ihres kleinen Apartments öffnete. Ein Mann trat ein. Ein Unbekannter. Was wollte er? Er setze sich. Er setze sich nah an sie heran, nahm ihre Hand schaute ihr tief in die Augen, ein Blick voller Dankbarkeit, voller Liebe. Liebe, die eigentlich nur ein Mensch auf dieser Welt aufbringen kann.

Die Liebe eines Sohnes.

Die Augen eines geliebten Kindes. Der Griff eines Menschen geprägt mit Verlustangst, sie zu verlieren, die erste Frau in seinem Leben – seine Mutter.

Die Frau, die ihn trug, als er hilflos war, die ihn stillte, als er keinen Halt mehr wusste, die die ihn nahm, wenn er alleine war, die Frau die ihn liebte, als es niemand tat. Er wollte sie nicht verlieren. Seinen Vater hatte er bereits verloren und seit diesem Tag, als Papa seine Augen für immer Schloss war auch seine Mutter ein Stück weit von ihm gegangen, denn seit der Vater weg war, war sie nicht mehr die Fra,  die sie einst war. Er vermisste sie. Ihre Wärme, die sie immer ausstrahlte, ihr Lächeln, das sie immer hatte, wenn er von seinen Kindern berichtete, ihre Zuneigung, wenn sie von Früher sprach, als die Kinder noch klein waren. Sie hatte Pläne im Leben, doch dann wurde sie Mutter und vom ersten Tag an war ihr klar, dass dies ihre Bestimmung zu sein schien.

Sie hatte es nie bereut. Keinen einzigen Tag trauerte sie ungelebten Träumen nach. Sie lebte für ihre Kinder. Sie waren ihr ein und alles. Ihre Familie. Doch nun wusste sie es nicht mehr, lebte ein Leben in ihrer eigenen Welt mit ihren eigenen Gedanken zu denen keiner mehr Zugang fand, außer sie selbst. Keiner wusste wie es ihr ging. Sie lächelte. Lächelte sie bloß alles ab?

Wie ging es ihr?

Er hatte diesen einen Wunsch, diesen einen unstillbaren Wunsch. Er wollte sie nur noch ein einziges Mal zurückholen, sich einmal noch von ihr verabschieden, einmal noch danke sagen, das war er ihr schuldig. Er wollte sich verabschieden –von seiner Mutter. Ein letztes Mal sie in den Arm nehmen. Ihren zerbrechlichen Körper, der ihn einst so fest packte und schleuderte. Er erinnerte sich an alles. An all ihre Zuneigung. An all ihren Verzicht, wenn er nach ihr rief.

„ Hallo“ sagte der Mann in der Tür.

Diese Augen? Diese Augen… Man oh Mann diese Augen, wer war dieser junge Mann? Diese Augen sie sagten mir was. Als würde ich sie ein Leben lang im Herzen tragen, so sahen diese Augen aus. Als hätte ich nie etwas anderes im Leben gesehen. Er war so jung, so attraktiv, so adrett. Er erinnerte sie an jemanden.

Er hatte seine Grübchen. Seine Nase.

Der Mann setze sich wortlos neben sie. Zog ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche, das er langsam auffaltete. Mit Bedacht so ruhig und besonnen, was wollte er bloß, hier bei ihr?
Er musste schlucken. Fing mit zittriger Stimme an zu lesen …

Lieber Samuel,

mein geliebter Sohn. Mein Erstgeborener, mein Ein und Alles. Die Liebe deiner Mutter wirst du wohl nie verstehen bis du selbst ein Vater von deinen eigenen Kindern geworden bist. So war es auch bei mir als ich noch jung war, dass ist in Ordnung, nur ich möchte nicht die Chance verpassen dir zu sagen wer du für mich bist. Welche Frau du aus mir gemacht hast. Irgendwann werde ich mein Leben gelebt haben. Die Hälfte ist gerade umgegangen und du bist schon groß in der Zwischenzeit geworden. Dein Vater und deine Geschwister sind zwar noch an meiner Seite, aber du mein lieber Samuel, wirst immer mein Baby bleiben. Ich weiß noch wie ahnungslos ich in diese Mutter Geschichte hinein geschlittert bin, so unerfahren, voller Hoffnungen und Träume an das neue Leben zu dritt. Mit den stärksten Wünschen alles besser machen zu wollen, als meine Eltern es gemacht hatten. Bis ich begriff, sie haben es perfekt gemacht. Sie haben ihr Bestes gegeben. Tag für Tag. Stunde für Stunden, Minute um Minute.

Sie haben mich immer geliebt. Jeder für sich auf seine Art, jeder auf seine ganz besondere Art und so mein Sohn liebe ich auch dich. Du bist so groß geworden, inzwischen bist du 25 Jahre jung, studierst, hast deine erste Freundin und Spaß am Leben. Es macht mich unwahrscheinlich stolz zu sehen was aus die geworden ist. Aber am glücklichsten macht es mich deine Freude am Leben zu sehen. Deine Lebenslust, dein Elan die Welt anzupacken. Deine Zufriedenheit und dein Vertrauen an das Leben. Ich muss dich loslassen. Dich deine eigenen Wege gehen lassen, doch eins muss ich dir vorher noch mit auf den Weg geben: Ich bin wahnsinnig stolz auf dich. Ich habe jeden Schritt, jede Tat mit Bedacht und voller Freude wahrgenommen.

Habe Dinge beiseitegelegt nur um dich zu sehen. Nichts war je wichtiger, als du. Nichts war je wichtiger als du, denn du und deine Seele lassen alles vergängliche irgendwie einen Moment vergessen. Je mehr ich von dir mitbekommen habe, je zufriedener war ich, desto mehr bin ich von stolz geprägt deine Mutter sein zu dürfen, die Frau die dich bei der Hand nahm und mit dir ging. Ein Stück, eine Weile. Zu kurz war dieser Weg um irgendwas außer Acht zu lassen. Um irgendetwas mit anderen Dingen zu verbringen. Zu oft verstehen wir leider erst zu spät was wirklich zählt im Leben. Ich hatte Glück und begriff es recht schnell.

Zu groß war der Verlust eines geliebten Menschen, zu groß die Angst die Zeit an mir vorbeirennen zu sehen. Sie ist mir dennoch entglitten –die Zeit. Doch eins möchte ich nicht riskieren. Du sollst wissen wie sehr ich dich liebe. Wie viel mehr dieses Wort bedeutet, als es als geschriebenes Wort doch aussieht. Ich werde deine Augen nie vergessen. Ich werde immer wieder deinen Vater in dir sehen- uns, das Ergebnis einer Liebe. Du bist ein geliebtes Kind, von allen Seiten wirst du stets geliebt. Wir wollten dich, du bist das Beste, dass uns je wiederfahren ist. Ohne dich wäre ich nie die geworden die ich heute bin – eine Frau die man zu Recht Lieben darf.

Aufrichtig, ehrbar und voller Liebe für euch, meine Familie. Nicht ich zeigte dir das Leben, du zeigtest es mir. Nahmst meine Hand, nahmst sie Stück für Stück und führtest mich in Zonen, die mir bisher verschlossen geblieben sind. Ich lernte zu leben. Ich lernte zu vertrauen. Ich lernte zu verzeihen. Ich lernte die Welt kennen mit all ihren Höhen und Tiefen mit all ihren Sorgen und Ängsten, mit echten Gefühlen und Trauer, aber eins werde ich nie vergessen wie glücklich ich bei all dem war, wenn ich dich ansah. Ich möchte, dass du das weißt, dass der Schmerz, wenn ich nicht mehr bin nicht zu groß sein wird, weil du wissen wirst wie viel du mir bedeutet hast. Weil du wissen wirst wie sehr du auf dieser Erde gewollt warst. Weil du wissen wirst, dass DU, mein geliebter Sohn, mein Herz bist.

Mein lieber Samuel ich bin so unwahrscheinlich stolz auf dich. Vergiss das nie!

 

Deine dich in Ewigkeit liebende Mutter!

Tränen liefen ihr über die Wangen, als dieser Mann die Letzen Worte zu Ende sprach. Sie erinnerte sich an ihn. Ihre Kinder. Ihre Familie. Ihr kleiner Samuel war so groß geworden.

Langsam drehte er sich um. Diese Liebe, er war es, ihr geliebter kleiner Samuel, ihr Sohn, er saß an ihrem Bett, er hatte sie nicht vergessen, er war gekommen um sich zu verabschieden.

„Oh mein geliebter, kleiner Samuel“

Dem jungen Mann schossen Tränen in die Augen. Es hatte funktioniert.

„Mutter“

„Oh, Samuel“

Er nahm sie, die alte, gebrechliche Frau, die ihn einst trug. Er nahm sie so fest in seine Arme voller Dankbarkeit für ihr Leben, für ihre Liebe, für ihr Leben, dass sie ihren Kindern widmete.

„Ist das nicht ein herrlicher Tag, dort draußen?“  lächelte sie ihn zärtlich an, diese Frau die dort zurückgeblieben war.

„ Sind sie hier vom Personal?“

 

Tags: Familie

Related Posts

by
Ich bin 34 Jahre jung. Mama von zwei Kindern. Einem Sohn (01/14) und einer kleinen Tochter (08/16). Gemeinsam leben wir am Stadtrand von Köln. Streifen durch die Wälder, kochen, backen und tanzen zusammen. Meinen Blog gründete ich an einem kühlen Februarmorgen im Jahr 2014, als ich nach der Geburt meines ersten Kindes wieder einmal dachte: "So wir mir, geht es sicherlich vielen anderen Eltern da draußen, wieso spricht denn keiner darüber?" In diesem Augenblick traf ich den Entschluss und offenbahrte meinem Partner: "Liebling? Ich blogge - jetzt!" und das war die Geburtsstunde meines Mamablogs. Schön, dass Du den Weg zu mir gefunden hast!
Diese 3 Fehler haben mich beinah meine Partnerschaft gekostet! Ich habe Gewalt in meiner eigenen Kindheit erfahren müssen | Erfahrungsbericht

Comments

    • Mimi Wöhe
    • 28. März 2016
    Antworten

    Liebe Alina!

    Vielen lieben Dank für diese so wundervolle Idee des Briefeschreibens. Auch ich habe schon einmal daran gedacht, weil es Gefühle zu einer bestimmten Zeit gibt, die man oft vergisst und nur so festhalten kann. Ich liebe es wirklich sehr wie Du Deine Emotionen freien Lauf lässt und auch an die Zukunft denkst. Oh ja, wie recht Du hast, denn so wie Du schreibst fühlt nur eine liebende Mama.
    Ich gebe da TASHI absolut Recht, es wäre so wundervoll endlich eine Buch von Dir in den Händen zu halten oder auch ein Lied zu hören, wo Du den Songtext geschrieben hast.
    Vielen lieben Dank für Deinen Worte liebe Alina!

    • Nane
    • 18. März 2015
    Antworten

    Wirklich rührend geschrieben … mein Freund hat ja gerade erst seine Mama verloren – viel zu früh – und dieser Schmerz, den er aktuell fühlt, wird mir durch diesen Artikel nochmal richtig bewusst.

    Die Mama ist unersetzlich und reißt so eine große Lücke in dein Leben, wenn sie weg ist. Und ich spreche da jetzt ja “nur” aus Schwiegertochter-in-Spe-Sicht.

  1. Antworten

    … Ich muss mir erst die Tränen weg wischen.
    Du hast das so unglaublich rührend geschrieben! Danke dir!

  2. Antworten

    Wir sind auch Fan, vielleicht kannst du mit unserem Kram ja auch was anfangen, aktuell haben wir was über klein Kinder von heute im Angebot. ;)

    1. Ich werde ganz bald mal reinschauen. Danke, dass du da warst.

      Liebste Grüße

  3. Antworten

    Boah…bitte kennzeichne deine Texte von nun an mit “Nicht in der Bahn lesen”, denn ich heule hier wie ein Baby..man es. ;) du hast wunderbar geschrieben und ich möchte gern mehr davon lesen. Los ab, schreib ein Buch!

    1. Oh sorry, an so was habe ich nicht gedacht, dass tut mir wirklich leid ich kenne das soooo gut :) aber ist ja gut vielleicht fragen die Luete : “oh warum weinen sie denn” und dann kannst du sagen ich lese den Blog von ” Liebling, ich Blogge jetzt” und ich werd berühmt :D:D:D

      Spaß bei Seite danke für das tolle Kompliment es ehrt mich wirklich sehr! Jetzt könnte ich weinen
      Fühl dich lieb umarmt

  4. Antworten

    Huhu,
    das ist ein wundervoller Beitrag, ich habe Tränen in den Augen. So wunderschön. Und ich denke ich werde auch einen solchen Brief an meine Kinder schreiben. Damit sie sich immer an meine Liebe erinnern können.

    Liebe Grüße
    Tashi

    1. Ich denke, dass das eine gute Idee ist <3

      LG

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert